Das Orakel von Delphi

Das Orakel von Delphi

Über eine Stunde hatten wir draußen in der heißen, alles versengenden griechischen Sommersonne gewartet, bis man uns hatte eintreten lassen. Die Hoffnung, dass uns im Tempel des Orakels Kühle erwarten würde, verschwand schnell. Dort war es düster, stickig und mindestens genauso heiß wie draußen. Wie ein Schleier legte sich der süßliche Geruch nach Weihrauch und anderen getrockneten Kräutern, die ich noch nie gerochen hatte, über uns.

Ich drehte mich zu meinen Gefährten um. Das hier war vielleicht unsere einzige Hoffnung auf einen Sieg über König Xerxes und die Perser, dementsprechend teuer waren die Opfergaben gewesen. Meine treuen Gefährten nickten mir zu, in ehrfürchtiges Schweigen gehüllt. Der Ort strahlte eine seltsame Macht aus, und man fühlte sich der Zukunft so nah wie nirgendwo sonst. Die Priester, die sich vor einem Vorhang im hinteren Teil des Tempels postiert hatten, sahen uns erwartungsvoll an. Man sprach nicht selbst mit der Pythia[1], das war nur den Priestern des Tempels gestattet. Meine Knie zitterten ein wenig, als ich vortrat und niederkniete.

„Oh heiliges Orakel, wir nahmen den langen Weg von Athen hierher auf uns, um dir eine Frage zu stellen. So fragen wir im Auftrag des Königs von Athen: Wie können wir einen Sieg über die Perser erringen?“ Meine Stimme hallte von den mit Bildern zu Ehren des Gottes Apollo, Herr des Orakels, geschmückten Wänden wider. Einer der Priester verschwand hinter dem Vorhang. Wir hörten ihn leise murmeln. Dann herrschte Stille. Eine erdrückende Stille –  und von den Dämpfen in der Luft wurden wir allmählich schläfrig. Gleichzeitig hatten wir Angst. Was, wenn das Orakel unseren Untergang vorhersagte?

Der Schreiberling, den wir mitgebracht hatten, umklammerte seine Wachstafel.

Dann ertönte auf einmal eine leicht kratzige weibliche Stimme.

 

„Hoch von den Firsten der Tempel strömt es von dunklem Blut zum Zeichen des Unglücks.

Drum verlasst das heilige Gemach, fasst Mut bei dem Unheil!

Nur die hölzerne Mauer schenkt unverwüstet der Walter Zeus seiner Athene, für dich und die Kinder zum Nutzen.“

 

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, der Schreiberling kratzte wie von Sinnen auf seiner Wachstafel.

„Geht nun und berichtet eurem König!“, befahl einer der Priester mit tiefer Stimme. Hastig verließen wir das Heiligtum des Orakels und atmeten die frische, wenn auch trockene Luft ein.

Ich war froh, wieder draußen zu sein. Die mystische Atmosphäre im Tempel war doch irgendwie angsteinflößend gewesen.

„Lasst uns nun heimkehren und beraten, was diese Worte bedeuten sollen!“

Und so machten wir uns auf Richtung Athen und ließen die dunkle Stätte des Orakels hinter uns.[2]

 

 

[1] Pythia – durch ein Los bestimmte Priesterin des Orakels, die sich mit Dämpfen in eine Art                                                     Halbschlaf versetzte, um so Vorhersagen „im Auftrag“ des Gottes Apollo zu machen.

 

[2] Die Geschichte beruht auf einem wahren Ereignis. Die Athener gingen, nach langen Diskussionen, davon aus, dass in der Weissagung eine Seeschlacht gemeint war, die dann tatsächlich auch (zwischen dem 23.-29. September 480 v. Chr.) bei der griechischen Insel Salamis stattfand, und als bedeutendste Seeschlacht der Antike gilt. Durch die Vorhersage waren die Athener zahlenmäßig weit überlegen und konnten die Schlacht für sich entscheiden.

Woher das Orakel das wusste? Dazu gibt es verschiedene Antworten. In den Überlieferungen ist immer von einem Spalt im Boden die Rede, über dem die Pythia auf einer Art Hocker saß und aufsteigende Dämpfe einatmete, woraus sie ihre Weisheit bezog. Diese Theorie wird meist als falsch angesehen, da nie ein solcher Spalt gefunden wurde.

Wahrscheinlicher ist, dass sich das Orakel, wie in der Geschichte, mittels Weihrauchdämpfen oder Ähnlichem in eine Art Halbschlaf oder Trance versetzte. Denn es ist erwiesen, dass Menschen in Trance tatsächlich in der Lage sind, eine gewisse Hellsichtigkeit zu entwickeln.

Dazu kommen (wie ihr vielleicht bemerkt habt) die schwammigen, rätselhaften Antworten auf komplexere Fragen, die nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden konnten, die man sich selbst auslegen musste. Auch hatte der Tempel des Orakels gute Kontakte in der gesamten damals bekannten Welt und war deshalb immer gut über alle möglichen aktuellen politischen Vorgänge informiert. Die Menschen vertrauten den Weissagungen so sehr, da sie sehr gläubig waren und die Aussagen meistens in irgendeiner Form zutrafen.

  

Maren Siegers

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