Eine philosophische Kurzgeschichte: “Mit 180km/h zu Sartre”
Geschrieben von Mina Acar (Q1)
Weiter unten findet man die Geschichte im Bildformat.
Das Lenkrad klebte warm an meiner Stirn, doch irgendwo musste ich meinen Kopf ablegen. Heißer Wind fegte durch die
offenen Fenster und brachten mich noch mehr ins Schwitzen. Was. Ein. Mist. Heute Morgen hatte ich zum ersten Mal seit
langem wieder gedacht, dass doch noch alles gut werden könnte. Ich war mehr oder weniger ausgeschlafen aufgewacht,
meine Katze hatte mal nicht irgendwann in der Nacht auf den Teppich gekotzt und das Frühstück hatte auch geschmeckt.
Alles Anzeichen dafür, dass heute ein guter Tag werden konnte, das hatte ich zu diesem Zeitpunkt jedenfalls noch gedacht.
Keine Zweifel, keine Ängste, keine total miese Stimmung, keine Stimme in meinem Kopf, die ständig über mich lacht und
keine rasenden Gedanken. Und dann kommt mein Professor daher und schafft es mit meiner Hausarbeit, mir allen Mut
und alle Zuversicht wieder zu nehmen. Besser gesagt, mit meiner miserablen Hausarbeit. „Total unrealistisch geschrieben“,
hatte er in seiner Mail gesagt, und mir mit einem Schlag den Wind aus den Segeln genommen. „Und völlig falsche
Ansätze. Tut mir leid, aber diese Arbeit ist Ihnen gar nicht gelungen. Da habe ich ehrlich gesagt mehr von Ihnen erwartet.“
Jedes einzelne Wort war wie Blei für meine Seele gewesen, wie Messer, die meine Hoffnung in kleine erbärmliche Stücke
geschnitten hatten. Ich hatte für diese Hausarbeit alles getan, was in meiner Macht gestanden hatte, war bis spät nachts
aufgeblieben und hatte so vieles geopfert. Dieses Studium war einfach großer Mist. Mein Vater hatte richtig gelegen, als er
mir gesagt hatte, dass dies nicht zu mir passte. Wie so oft auch schon hätte ich einfach auf ihn hören und seinen
Lebenserfahrungen vertrauen sollen. Doch dafür war es jetzt zu spät und ich würde nie wieder irgend einen Rat von ihm
annehmen können. Er würde sich im Grab rumdrehen, wenn er wüsste, was aus mir geworden ist. Ein einsames Wrack,
gefangen in einem Studium, das mir jede Energie raubte, die ich noch übrig hatte. Manchmal fühlte es sich tatsächlich so
an, als würde die gesamte Welt, mit all ihrer Schwere und ihren Problemen, auf meinen Schultern ruhen. Nicht mal meine
Freunde konnte ich so einfach besuchen, wahren sie doch vor zwei Jahren mit ihren Partnern aufs Land gezogen, um
ihren Kindern eine Bilderbuchkindheit geben zu können, oder um ihre Träume zu verwirklichen, sich selbstständig zu
machen und zurück zu ziehen. Gerade saßen sie wahrscheinlich in ihren riesigen Betten, tranken gemütlich Kaffe und
genossen die Ruhe, nachdem sie ihre Nervensägen in den Kindergarten gebracht hatten. Und was hatte ich heute schon
alles gemacht? Meine Schande von Hausarbeit einkassiert und in meiner tausendsten Vorlesung gesessen, während ich
gemerkt hatte, dass dieses Studium schon wieder nicht das richtige für mich war. Irgendwann hatte ich der Professorin
nicht mal mehr zugehört. Ich wusste nur noch, dass es bei ihr um irgend einen Typen namens Sartre gegangen war, der
irgendetwas mit „totaler Verantwortung“ zu tun gehabt hatte. Ein paar der Studenten hatten gelacht, als sie irgendwelche
Metaphern ausgepackt hatte. Etwas wie: „Das Lenkrad eures Lebens habt ihr selbst in der Hand.“ Das klang nach so
einem Spruch, den man auf billigen Kühlschrankmagneten fand. Geräuschvoll ließ ich den Atem los, den ich unbewusst
angehalten hatte, und die warme Luft prallte vom Autolenker ab, um mir den Schweiß erst richtig in die Augen triefen zu
lassen, sodass ich endlich den Kopf hob. Ich rieb mir mit beiden Händen müde über mein warmes Gesicht. „Das Lenkrad
eures Lebens habt ihr selbst in der Hand“, äffte ich die Stimme meiner Professorin nach. Das brachte meinen Kopf wieder
dazu, Millionen von Tonnen schwer zu werden und ich ließ ihn, voller Frust, wieder abwärts sausen. Natürlich traf er perfekt
auf die Hupe, was meine Frustration bis zu ihren Grenzen trieb. Doch dadurch galt meine Aufmerksamkeit nun voll und
ganz dem runden Etwas vor mir, welches ich mit beiden Händen fest umklammert hielt. Der Satz, über den ich mich eben
noch lustig gemacht hatte, hallte leise in meinem Gedächtnis wider. Irgendetwas in meinem Hirn musste verrückt spielen,
denn plötzlich bewegte sich meine Hand, ohne, dass ich wirklich darüber nachdachte, erneut in die Mitte des Lenkrads und
somit auf die Hupe zu. Und ich drückte. Wieder war dieser laute, hohe Ton zu hören. Ob der Typ, der neben mir auf der
Raststätte parkte, sich etwas dabei dachte? Es war mir aber auch egal. Denn viel wichtiger war doch, dass ich komplett
den Verstand verloren haben musste! Denn eine Sekunde später tat ich genau das gleiche, und danach sofort noch ein
Mal. Ein leises, erschrockenes Lachen kroch meine raue Kehle empor, was sich auf einmal auch noch in eine Art
hysterisches Prusten verwandelte. Irgendwie hatte der Satz meiner Professorin nun doch einen Sinn ergeben. Immerhin
hatte ich, und nur ich, die Hupe meines Lenkrads betätigt. Und ich konnte noch viel mehr damit machen. Eine plötzliche
Entschlossenheit packte mich, und ich drehte einfach den Schlüssel, ließ den Motor für einen Moment laufen und nachdem
ich
ausgeparkt hatte, drückte ich aufs Gaspedal. Die Ausfahrt der Raststätte war sofort in Sicht und ich hielt, das Tempo immer
erhöhend, gerade darauf zu. Niemand griff mir dazwischen, niemand hatte hier das Sagen. Mit Ausnahme von mir.
Während ich also auf die Autobahn auffuhr kramte ich gleichzeitig irgendwo in den hintersten Ecken meines Gehirns nach
den anderen Metaphern. Da war noch etwas von aufräumen oder putzen die Rede gewesen. Meine Gedanken waren
gerade auf Hochtouren, weshalb ich irgendwie eine Erklärung für diese Metapher fand. Denn als ich einen kurzen
Augenblick auf den Beifahrersitze blickte und die Taschen, Müllbeutel und Krümel sah, fiel mir auf, wie verwahrlost mein
Auto doch aussah. Es war mir vorher allerdings gar nicht richtig aufgefallen, doch bei näherem Hinsehen erkannte ich, wie
dringend notwendig es wieder war. Ich kam zwar gerade erst von einer Raststätte, doch bei der nächsten Tankstelle fuhr
ich wieder ab, hielt neben einer Mülltonne und hievte alle Müllbeutel aus meinem Auto dort hinein. Bei dieser Aktion fielen
mir auch haufenweise Blätter aus verschiedenen Vorlesungen auf, weil ich immer noch so altmodisch auf Papier schrieb.
Doch ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden klemmte ich mir auch diesen Stapel unter die Arme und presste es
noch unter den Deckel der Mülltonne, auch wenn er dadurch nicht mehr richtig verschlossen war. Wieder entwicht mir
dieses neuartige Lachen, doch ich vergeudete keine weitere Zeit, sondern stieg wieder ein. Beim Ausparken blickte ich in
den Rückspiegel und sah, wie ein paar meiner Blätter, vom Wind getragen, durch die Luft und über die anderen Autos
hinweg flogen. Ich hatte so eben mein altes Leben weggeschmissen. Erstaunlicherweise fühlte es sich jedoch richtig an, so
befreiend und säubernd, als hätte jemand mit einem Putzlappen über die weniger bemerkenswerten Dinge meiner
Vergangenheit gewischt, wo wiederum eine freie Arbeitsfläche entstand, die Platz für Neues bot. Für einen kurzen Moment
wog ein bekanntes Gefühl der Schwere wie eine Welle über mich hinweg, zog sich jedoch wieder zurück, nachdem ich
mich vom Rückspiegel losgelöst hatte und wieder durch die Windschutzscheibe nach vorne blickte. Was geschehen ist, ist
nun mal geschehen, ändern konnte ich es nicht. Entscheidend war doch jetzt, was ich daraus lernte, oder nicht? Denn um
ganz offen zu sein, ich konnte eine Menge von der Vergangenheit lernen. Vor allem, was ich alles hinter mir lassen wollte,
wie mein beschissenes Studium, das doch keinen Sinn für mich ergab. Ich war nicht darin gefangen, wie ich zuerst
gedacht hatte, ich hatte die Kontrolle darüber, wie über dieses Auto. Als Beweis beschleunigte ich einfach, bis das Tacho
mir 180km anzeigte, was ein nur schwer beschreibbares Gefühl in meiner Brust auslöste. Es war, als summte ein
aufgeregter Bienenschwarm in meiner Brust, dem sich immer mehr Bienen anschließen würden und somit den flatternden
Druck immer weiter steigerten. Er schwoll an, reichte irgendwann von meinen Ohren bis zu meinem Bauch und begann
allmählich an zu kitzeln. Dieser Zustand hielt an, bis ich schließlich meine Ausfahrt erblickte und vom Gaspedal trat.
Zuhause angekommen hetzte die Treppen zu meiner Wohnung hoch, als wäre ein Irrer hinter mir her und viele hätten
wahrscheinlich genau das angenommen, wäre da nicht das Lächeln, dieses bescheuerte, losgelöste Grinsen. Mit hastigen
Bewegungen kramte ich nun alles aus meinen Schränken, was wichtig für mich war, wie Fotos, Bücher und Klamotten.
„Komm Artemis, wir machen, was schon lange nötig gewesen ist“, sagte ich, als mir meine Katze zur Begrü.ung um die
Beine schlich. Ohne Protest ließ sie sich hochnehmen und in ihre Transportbox stecken, als wüsste sie genau, was nun
kommen würde. Als alles im Auto verstaut war ging es auch schon wieder los, ich befand mich in einem Rausch aus neuen
spontanen Gedanken und Tatendrang. Ohne einen letzten Blick auf das Gebäude, das ich einst als Art zuhause gesehen
habe, zu werfen fuhr ich so schnell wieder aus der Auffahrt wie ich gekommen war. Um die Wohnung würde ich mich
später kümmern. Vielleicht wenn ich wusste, wohin genau ich eigentlich fahren wollte. Ich wusste nur eins: Richtung Meer,
irgendwo in den Süden, wo die Welt warmer war. Das Radio laut aufgedreht raste ich dahin, der Fahrtwind, der durch das
offene Fenster herumwirbelte, peitschte mir die Haare ums Gesicht. Und ich tat es, weil ich es wirklich wollte, vielleicht
wollte ich das hier mehr, als alles andere. Und ich konnte es auch wirklich umsetzten, denn einem erfüllteren Leben stand
mir nur eins im Weg: ich selbst. Kein Studium, kein Professor, keine Hausarbeit. Ich hatte die vollständige Kontrolle und
Verantwortung, wie ich mein Leben gestalten wollte. „Ich hatte das Lenkrad meines Lebens selbst in der Hand.“
Thomas Koch
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