Thomas Mann – Mario und der Zauberer: eine Interpretation der ersten vier Sätze

Thomas Mann – Mario und der Zauberer: eine Interpretation der ersten vier Sätze

Die folgende Interpretation wurde im Rahmen der Unterrichtsreihe zu Thomas Manns “Mario und der Zauberer” von Eylül Arslanboga (Q2) verfasst. 

 

 

Bei dem vorliegenden Textauszug der Novelle „Mario und der Zauberer“, welche im Jahre 1929 von Thomas Mann veröffentlicht wurde, handelt es sich um die Einleitung bzw. die ersten vier Sätze der Novelle, die im Folgenden ergründet werden sollen.

 

Um den Bezug der Analyse nachvollziehbar zu machen, werden zunächst die ersten vier Sätze aufgelistet. Zudem kann dadurch der geneigte Leser einen eigenen ersten Eindruck von der Novelle gewinnen.

 

 

Die Erinnerung an Torre di Venere ist atmosphärisch unangenehm.

 

Ärger, Gereiztheit, Überspannung lagen von Anfang an in der Luft, und zum Schluss kam dann der Choc mit diesem schrecklichen Cipolla, in dessen Person sich das eigentümlich Bösartige der Stimmung auf verhängnishafte und übrigens menschlich sehr eindrucksvolle Weise zu verkörpern und bedrohlich zusammenzudrängen schien.

 

Dass bei dem Ende mit Schrecken (einem, wie uns nachträglich schien, vorgezeichneten und im Wesen der Dinge liegenden Ende) auch noch die Kinder anwesend sein mussten, war eine traurige und auf Missverständnis beruhende Ungehörigkeit für sich, verschuldet durch die falschen Vorspiegelungen des merkwürdigen Mannes.

 

Gottlob haben sie nicht verstanden, wo das Spektakel aufhörte und die Katastrophe begann, und man hat sie in dem glücklichen Wahn gelassen, dass alles Theater gewesen sei. 

 

 

 

Die Einleitung dieser Novelle erweist einen Charakter, der in seinen Merkmalen eine gewisse Rarität verkörpert, welche durch die nachfolgende Illustration offenbart werden soll. Bereits der erste Satz der Novelle „Die Erinnerung an Torre di Venere ist atmosphärisch unangenehm.“ verdeutlicht, dass das Werk rückblickend geschrieben wurde. Darüber hinaus erfährt der Leser direkt zu Beginn den Ort der Handlung, nämlich „Torre di Venere“. Weiterhin wird ein zentrales Merkmal der Novelle, welches sich durch die gesamte Handlung zieht, beschrieben, nämlich der „atmosphärisch unangenehme“ Aspekt. Der Leser wird hier gewissermaßen auf die folgende Handlung eingestimmt. Aber gerade das macht den Satz auf eine bestimmte Weise verwirrend, weil der Erzähler seine Leser normalerweise nicht auf die Handlung einstimmt, sondern dieses auf ihn zukommen lässt und ihn gewissermaßen überrascht und eben nicht die grundlegende Stimmung ankündigt und seine Erlebnisse erläutert, obwohl diese scheinbar unangenehm sind, was bedeutet, dass hier ein Reflexionsprozess stattfinden wird. Aber diese unübliche oder auch verwirrende Art, in eine Novelle einzusteigen, macht die Novelle für den Leser umso spannender.

 

Der zweite Satz, im Vergleich zum ersten wesentlich länger, lautet: „Ärger, Gereiztheit, Überspannung lagen von Anfang an in der Luft, und zum Schluß kam dann der Choc mit diesem Cipolla, in dessen Person sich das eigentümlich Bösartige der Stimmung auf verhängnishafte und übrigens menschlich sehr eindrucksvolle Weise zu verkörpern und bedrohlich zusammendrängen schien.“ Das Besondere an diesem Satz ist, dass jener mit einer Klimax eingeleitet wird, was sehr eindrucksvoll auf den Leser wirkt, vor allem da nur negative Wörter aufgezählt werden, was in Kombination mit Ausdrücken wie „verhängnishaft“ und „eigentümlich Bösartig“ auf ein fatales Geschehen hindeutet, was natürlich die Neugier des Lesers verstärkt. Im Übrigen liegt ein Element vor, was den Anfang und das Ende des Satzes miteinander verbindet, nämlich Cipolla (zu dt. Zwiebel), was wiederum ein Faktor für die Spannung ist, da der Leser nicht erfährt, wer Cipolla ist, nur dass er „schrecklich“ und „menschlich eindrucksvoll“ sei.  Zudem lässt sein Name auf eine facettenreiche Persönlichkeit (eine Zwiebel hat mehrere Schichten) hindeuten und die Klimax am Anfang des Satzes lässt sich gewissermaßen als Personifikation Cipollas deuten, da dieser ohnehin schon durch eher negative Eigenschaften beschrieben wurde. Diese Ambivalenz, dass Cipolla gleichzeitig als eindrucksvoll aber auch als furchterregend beschrieben wird, sorgt für ein noch größeres Interesse seitens des Lesers, da scheinbar paradoxe bzw. widersprüchliche Umstände stärker hinterfragt und reflektiert werden.

 

Der dritte Satz ist erneut vergleichsweise lang und lautet „Daß bei dem Ende mit Schrecken (einem, wie uns nachträglich schien, vorgezeichneten und im Wesen der Dinge liegenden Ende) auch noch die Kinder dabei sein mußten, war eine traurige und auf Mißverständnis beruhende Ungehörigkeit für sich, verschuldet durch die falschen Vorspiegelungen des merkwürdigen Mannes.“. Der Hinweis, dass das Ende mit Schrecken komme, sorgt erneut für einen Anstieg der Spannung, vor allem weil der Erzähler nicht sich (also die Eltern der Kinder) beschuldigt, sondern zuvorderst Cipolla und somit seine Verantwortung abgibt. Dennoch fällt auf, dass der Erzähler seine Erlebnisse reflektiert und distanziert beurteilen kann, da er sich selbst dafür kritisiert, dass das Ende vorauszusehen war, wobei man anmerken sollte, dass es immer einfacher ist, Erlebnisse zu beurteilen, zu denen man Abstand gewonnen hat. Daher könnte man den Schluss ziehen, dass der Erzähler teilweise zu selbstkritisch ist. Da es sich hier aber um seine Kinder, dessen Verantwortung er sich teilweise doch bewusst zu sein scheint und deren Wohlergehen geht, um welches er besorgt zu sein scheint, ist das auch nachvollziehbar.

Außerdem wird deutlich, dass der Erzähler Cipollas Tricks als „Vorspiegelungen“ bezeichnet, was bedeutet, dass Cipollas Tricks in irgendeiner Form zur Reflexion des Publikums beiträgt, die der Erzähler hier aber als falsch deklariert, ohne zu erwähnen, was denn genau falsch war. Überdies wird Cipollas Beschreibung um das Adjektiv „merkwürdig“ ergänzt. Weiterhin zeigt sich in diesem Satz zum ersten Mal neben der auktorialen auch eine andere Erzählform, nämlich der Ich- Erzähler (bzw. hier in der „Wir-Form“), was sie Grundlage für ein besseres Hineinversetzen des Lesers in die Perspektive des Erzählers schafft.

 

Der vierte Satz ist vergleichsweise mittelmäßig lang und lautet: „Gottlob haben sie nicht verstanden, wo das Spektakel aufhörte und die Katastrophe begann, und man hat sie in dem glücklichen Wahn gelassen, dass alles Theater gewesen sei.“. Hier wird zu Beginn des Satzes erneut die Fürsorge des Erzählers klar, der sichtlich darüber erleichtert ist, dass seine Kinder unversehrt sind. Zudem wird deutlich, dass die Grenze zwischen Katastrophe und Spektakel nicht klar zu sein scheint und diese beiden Ereignisse Ähnlichkeiten aufweisen sowie dass Cipolla anscheinend vorher schon Tricks vorgeführt hat, die zu einem gewissen Maße verwerflich waren, aber trotzdem noch als „Spektakel“ gewertet wurden, bevor dann bei der Katastrophe das Fass zum Überlaufen gebracht wurde.

Des Weiteren wird beschrieben, dass „man“ die Kinder in einem „glücklichen Wahn“ gelassen habe. Der Ausdruck „man“ ist in diesem Zusammenhang unbestimmt, mirakulös und distanziert, was natürlich ebenfalls die Neugier des Rezipienten erweckt. Der glückliche Wahn lässt sich unter anderem auf zwei Weisen interpretieren, da man grob zwei Arten von Glück unterscheiden kann. Im Sinne von Glück haben, würde es bedeuten, dass die Kinder sozusagen „zufällig“, aber zu Gunsten der Familie im Wahn gelassen wurden. Interpretiert man das Glück im Sinne von glücklich sein, so liegt ein Paradoxon vor, weil man den Zustand des Wahns intuitiv nicht als glücklich annimmt, aber wie sich bereits vorher gezeigt hat, kommen in diesem Abschnitt viele paradoxe Umstände vor, die ineinander verschmelzen und eine klare Beurteilung zunächst erschweren. Außerdem ist der Mensch im Wahn nicht oder nur eingeschränkt Herr seines Geistes und Verstands, weshalb eine Form der Manipulation impliziert wird. Insgesamt wissen die Kinder nicht um den Wahrheitsgehalt ihrer Erlebnisse und denken, dass alles zum Theater gehöre.

 

Nachdem nun die einzelnen Sätze analysiert wurden, stellt sich nun die Frage, was denn genau diese Einleitung der Novelle einzigartig macht. Dabei sind mehrere Faktoren zu betrachten. Als erstes lässt sich sagen, dass diese ersten vier Sätze eine grobe und lückenhafte Inhaltsangabe über die ganze Novelle anbieten. Da diese aber sehr lückenhaft ist, treten beim Leser viele Fragen auf, die den Rezipienten zum Weiterlesen verleiten, sodass beim Lesen die Inhaltsangabe und die damit einhergehenden Fragen immer im Hinterkopf bleiben und Stück für Stück beantwortet werden. Hinzu kommt, dass bereits zu Beginn der Novelle beschreibende und reflektierende Abschnitte aufeinander bezogen werden, was einzigartig ist, da der (auktoriale) Erzähler sonst häufig nur die Gedanken und Handlung anderer und nicht die eigenen kommentiert. Außerdem wird eine Spannung erzeugt, indem beispielsweise paradoxe Umstände beschrieben werden, die der Leser sich nicht erklären kann, dessen Antworten er aber erlangen will. Auf diese Weise  schafft es der Erzähler, so viel Preis zu geben, dass man nicht zu viel weiß, aber genug, um die Handlung zu hinterfragen und neugierig zu werden. Zudem gibt der Erzähler sprachliche Bilder und Analogien und Adjektive wieder, die den Inhalt gut veranschaulichen und es treten kaum Wiedererkennungsmerkmale anderer Novellen auf, die für ein monotones und bereits bekanntes Leseerlebnis sorgen würden. Darüber hinaus ist die Ausgangssituation sehr realitätsnah und nachvollziehbar beschrieben.

Der Fakt, dass die Novelle von einem Reiseerlebnis handelt, kündigt ebenfalls eine interessante Handlung an, da man bereits antizipieren kann, dass der ohnehin reflektierte Erzähler die Normen, Sitten und die Kultur der Einheimischen, anhand der eigenen Wertvorstellungen beurteilen wird, was eine Neugier erweckende Ambivalenz verspricht. Zuletzt gibt es dann noch den Faktor, dass der Erzähler bereits in diesem kurzen Abschnitt viele philosophische Dilemmata angesprochen hat und das auch über die ganze Novelle fortführt. Ein Dilemma, was in diesem Abschnitt auftritt, ist beispielsweise die Frage, ob es in Ordnung ist, die eigenen Kinder, auch im jungen Alter, zu ihrem Schutze anzulügen und wie sich das auf das Elternteil als Vertrauensperson auswirkt. Man könnte sich auch fragen, ob es überhaupt einen Unterschied gemacht hätte, die Kinder in dem Glauben zu lassen, dass diese ein Theaterstück, eine Illusion, gesehen haben, wenn man doch gar nicht weiß, ob die Wahrheit eine Illusion ist. Außerdem könnte man diese Situation bereits auf die Philosophie Arthur Schopenhauer beziehen, die später noch eine wichtige Rolle einnehmen wird, aber bereits hier könnte man sagen, dass die Tragik des menschlichen Daseins deutlich wird.

 

Abschließend lässt sich sagen, dass die Einleitung der vorliegenden Novelle einen sehr einzigartigen Charakter aufweist und viele Details verbirgt, die den Leser zum Nachdenken, Verstehen und Lernen anregen und sich ganz von den Einleitungen anderer Novellen abhebt.

 

Thomas Koch

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