Tagebucheintrag – Unter der Drachenwand

Tagebucheintrag – Unter der Drachenwand

 

 Nachdem mehrere Tage lang die Sonne geschienen hatte

 

Nachdem mehrere Tage lang die Sonne geschienen hatte, wurde die Welt nun von dem üblichen grauen Schleier überzogen. Die Luft erkaltete unter einer bedrückenden Wolkenwand und auch die Menschen in Mondsee schienen unnatürlich bedrückt und melancholisch. Es fiel mir schwer, ihnen dabei zuzusehen, wie sie gedankenverloren von einem Ort zum nächsten umherirrten, ihre täglichen Aufgaben erfüllten oder sich gezwungenermaßen eine andere Beschäftigung suchten. /

Eine Zeit lang ertrug ich den öffentlichen Nachrichtendienst, der von dem Zimmer der Quartierfrau durch die dünnen Mauern zu uns dröhnte, doch schon nach einigen Minuten konnte ich es nicht mehr hören und gesellte mich zu Margot, um mich vor ihr darüber aufzuregen. Auch sie wirkte heute abwesend und es fiel mir schwer zu glauben, dass sie mir wirklich zuhörte Sie schaute aus dem Fenster, fokussiert auf einen Punkt im Horizont, doch vollkommen ausdruckslos, reglos und teilnahmelos, als wäre sie selbst nicht Teil dieser Situation. /

Lilo krabbelte munter über den Wohnzimmerboden und war scheinbar selbst erstaunt über ihr Bewegungsmanöver, weshalb sie mich erstaunt ansah und anscheinend Lob von mir erwartete. Ich hob sie vorsichtig hoch und brachte sie zu ihrer Mutter, die nun anscheinend wieder in der Realität zurückgekehrt war und mich leicht anlächelte. Ich schlug ihr vor, einen Spaziergang zu machen, damit wir alle drei Mal wieder ein bisschen frische Luft bekommen, was uns wahrscheinlich guttun würde. Auch wenn ich den frischen Wind sehr genoss, war der Spaziergang eher enttäuschend. Wir begegneten mehreren Personen aus dem Dorf, die uns mit einer Mischung aus Entsetzen und Ekel ansahen und uns daher wenig Zeit für uns ließen. Margot hielt Lilo beschützt im Arm, die jedoch jeder Person in ihrer kindlichen Neugier anstrahlte und

scheinbar direkt vertraute, was mich sehr beeindruckte und auch entsetzte. Seit meiner erneuten Zurückstellung gingen immer mehr Stimmen am Mondsee umher, die behaupteten, ich verstecke mich in dem Bett einer Darmstädterin vor dem Dienst auf dem Feld. Sie hätten mich wahrscheinlich bei der erst besten Gelegenheit an den Krieg verfüttert, wäre ich nicht offiziell krankgeschrieben gewesen. Seitdem gehen wir seltener spazieren und trauen uns nur vor die Tür, wenn auf den Straßen wenig Betrieb ist. /

Der Krieg lässt die Menschen scheinbar alle guten Dinge vergessen und bringt nur das Schlechte in ihnen hervor. Er nährt sich an ihrem Unglück und vertreibt alle Freude und Liebe und Zuneigung aus ihrem Leben. Nur den Hass lässt er zurück. Und die Angst. In der Nähe von dem Ufer am See kamen wir an eine Stelle, an der ein toter Schwan lag, offenbar erschossen, ohne einen potenziellen Täter in Sicht. Er lag dort mit ausgestreckten Flügeln, den Kopf leicht zur Seite geneigt, einzelne rot gefärbte Federn lagen um ihn herum und manche von ihnen verdeckten halb die offene Wunde. Margot drehte sich mit Lilo auf dem Arm weg, um ihr den Anblick zu ersparen, doch sie wimmelte sich jedes Mal aus ihrem Griff und sah dennoch das tote Tier. Der Geruch von Blut und Schmutz löste ein unwohles Gefühl in mir aus und, auch wenn mir das Tier sehr leid tat, musste ich mich schnell von dem Ort entfernen, um nicht einen weiteren Anfall zu bekommen. Vorsorglich nahm ich trotzdem ein Pervitin. /

Auf dem Heimweg fielen einzelne Regentropfen vom Himmel, die der Wind uns entgegenwehte. Wir mussten schnell laufen, um nicht nass zu werden und uns vielleicht noch zu erkälten. Ich erinnere mich noch sehr gut an die betrübte Stimmung später am Nachmittag. Wir wechselten kaum ein paar Worte und schauten uns auch nur selten an. /

Als ich mich dann in mein Zimmer begab, setzte ein heftiger Schauer ein, der sich bald als ein Sturm entpuppte und von dem Himmel bereits den gesamten Tag lang angekündigt worden ist. Es schien mir, als würde der Regen alle Menschen von den Straßen spülen und kurz tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass er auch den

Hass und die Angst vertreibt und wir bald wohlmöglich ein ruhigeres Leben haben werden. Doch dann sah ich auf das Gewächshaus des Brasilianers, der verzweifelt versuchte mit Eimern und Abdeckungen den Regen von seinen Tomaten und Orchideen abzuhalten und fast schon panisch umherlief, um sein kleines Glashaus zu beschützen. Und da sah ich den Regen wieder als etwas Böses und Zerstörerisches, das ich zuvor nur im Krieg erlebt hatte.

 

 

(Cyril Plöhn, Q2)

Thomas Koch

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